NIM Marketing Intelligence Review – Influencer Marketing und die Creator Economy

Wenn du selbst das Produkt bist: Das (nicht so) glamouröse Leben als Influencer

Visibility Vulnerability Hate Speach Influencer Marketing Creator Economy

Autorinnen und Autoren

  • Brooke Erin Duffy, Associate Professor Department of Communication, Cornell University
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Social-Media-Influencer ist der neue Traumjob. Die Creator Economy – eine mehr als 250 Milliarden US-Dollar schwere Nische im digitalen Marktgeschehen – verändert die Alltagskultur, den Handel und die Arbeitswelt. Millionen von Menschen arbeiten hauptberuflich als Content-Creator oder Influencer und unzählige weitere träumen davon, es ihnen gleichzutun. Im Zuge der weltweiten Pandemie haben Social-Media-Karrieren weiter an Attraktivität gewonnen und Erwerbstätige wünschen sich mehr Autonomie, Flexibilität und Selbstverwirklichung. Eine von der Influencer-Marketing-Agentur IZEA veröffentlichte Umfrage aus dem Jahr 2024 ergab, dass nicht nur Teenager, sondern auch bis zu 60-jährige Erwachsene gerne als Influencerinnen und Influencer tätig wären.

Die Welt hinter den Kulissen ist häufig weniger glamourös

Trotz aller Verheißungen von Freiheit, Flexibilität und kreativer Unabhängigkeit bergen Influencer-Karrieren auch Herausforderungen und Risiken. In den vergangenen zehn Jahren habe ich dazu geforscht, wie viel Aufwand der Erfolg im Social-Media-Bereich erfordert. Dabei haben mir Influencerinnen und Influencer von einigen häufig übersehenen Gefahren ihrer Tätigkeit berichtet – von wirtschaftlicher Unsicherheit über undurchschaubare Algorithmen bis hin zu Beleidigungen, die als „Teil des Jobs“ abgetan werden. Abbildung 1 zeigt in zwei zufällig arrangierten Wordclouds, was man allgemein mit einem Leben als Influencer verbindet und was die oft übersehenen Schattenseiten sind.

Licht- und Schattenseiten des Influencer Daseins

> Wirtschaftliche Unsicherheit und Plattformabhängigkeit

Berufliche Unabhängigkeit klingt für viele verlockend, doch als „selbstständigen Auftragnehmenden“ fehlen Influencern viele Sicherheiten, die eine Festanstellung bietet: ein stabiles Einkommen, bezahlter Urlaub, Sozialleistungen, Schulungen sowie Arbeitnehmerschutz. Durch unvorhersehbare Plattformänderungen und wechselnde Markttrends können ihre Einkommen stark schwanken – finanzielle Unsicherheit ist also vorprogrammiert. Aus Umfragedaten von LinkTree geht hervor, dass das Jahreseinkommen der meisten Influencerinnen und Influencer unter 60.000 US-Dollar liegt, wobei Frauen und People of Color durchweg schlechter bezahlt werden als ihre Kollegen. Thomas Poell, David Nieborg und ich bezeichnen Influencerinnen und Influencer als „plattformabhängige Arbeitskräfte“, weil sie auf die Infrastrukturen und Governance-Systeme von Social-Media-Plattformen angewiesen sind. Auch die mysteriösen Plattform-Algorithmen sind ein großer Unsicherheitsfaktor für Influencer. Studienteilnehmer berichteten von ihrer Angst vor den „algorithmischen Monstern, gegen die [wir] kämpfen“, wie es ein Interviewpartner ausdrückte.

Die gefühlte Verpflichtung, sich zu zeigen, führt zu ständiger Beurteilung und Überwachung durch die Öffentlichkeit.

> Der Druck, aktiv und authentisch zu bleiben

Die Creator Economy basiert auf quantifizierbaren Kennzahlen für die Sichtbarkeit wie Likes, Views, Shares und Followern. Von Influencerinnen und Influencern wird erwartet, dass sie sich an das halten, was die Forscherkollegin Emily Hund und ich als „Sichtbarkeitsmandat“ bezeichnen: Sie sind gezwungen, Risiken einzugehen, indem sie sich „öffentlich exponieren“. Tatsächlich verzeichneten einige Studienteilnehmer deutliche Wachstumsschübe, als sie bereit waren, immer intimere – und selbst traumatische – Ereignisse aus ihrem Leben öffentlich zu machen. Ein Interviewpartner schilderte beispielsweise seine Probleme durch plötzliche Arbeitslosigkeit, während eine Teilnehmerin ihren Followern erzählte, wie sie als Kind den Verlust ihrer Mutter erlebt hatte. Laut ihren eigenen Angaben konnte sie dadurch eine „enge Verbindung“ mit anderen jungen Frauen aufbauen – und nebenbei ihre Reichweite verbessern. Das Publikum in den sozialen Medien fühlt sich offenbar durch Authentizität, Vertrautheit und Intimität angezogen, doch Sichtbarkeit und persönliche Verletzlichkeit sind eng miteinander verbunden.

> Online-Belästigung und identitätsbasierter Hass

Die gefühlte Verpflichtung, sich zu zeigen, führt zu ständiger Beurteilung und Überwachung durch die Öffentlichkeit. Teilnehmende meiner Studie berichteten zudem von Unhöflichkeit, Hass und Anfeindungen, insbesondere gegenüber Frauen, People of Color und LGBTQ+-Personen. Andere erzählten von Gruppen-Mobbing, beispielsweise in Form von „Hass-Razzien“ gegen Streamer, die Minoritäten angehören. In männerdominierten Bereichen wie Sport und Gaming erleben Frauen ein hohes Maß an Sexismus und Feindseligkeit. Einige unserer Studienteilnehmerinnen berichteten von Trolling, Mobbing, Stalking und sogar Morddrohungen. Die damit einhergehende emotionale Belastung kann enorm sein – auch weil die Unterstützung eines Arbeitgebers fehlt. Außerdem zwingt die Furcht vor kritischen Reaktionen die Content-Ersteller in manchen Fällen dazu, lieber zu schweigen.

> Unzureichende Unterstützung durch Plattformen

Plattform-Ökosysteme belohnen Aufmerksamkeit und profitieren, wenn sich Nutzer intensiv beteiligen. Laut Aussagen von Studienteilnehmern tun diese Unternehmen jedoch wenig, um die damit verbundenen Gefahren einzudämmen. Es ist allgemein bekannt, dass Algorithmen vieldiskutierte Inhalte priorisieren, und einige der von uns Befragten vermuteten, dass Plattformen auch kontroverse und unschön kommentierte Beiträge pushen. Dass auch Hasskommentare als Zeichen für gutes User-Engagement und damit für den Erfolg von Influencerinnen und Influencern gewertet werden, zeigte auch eine unserer Studien zur Vulnerabilität von Influencern.
Doch während Algorithmen perfekt als „Outrage-Machines“ funktionieren, wie es eine Studienteilnehmerin formulierte, greifen die von den Plattformen bereitgestellten Tools – wie Reporting- oder Kommentar-Moderationsfunktionen – laut den von uns befragten Influencerinnen und Influencern kaum. Angesichts fehlender solider Maßnahmen gegen Anfeindungen und mangelnder direkter Unterstützung durch die Plattformen fühlen sich Influencer und Content-Ersteller ziemlich schutzlos und alleingelassen. Berufliche Normen halten sie zudem dazu an, negative Reaktionen und öffentliche Kritik nicht so ernst zu nehmen. Das fehlende Verständnis dafür, was es bedeutet, sich in die Öffentlichkeit zu wagen, hält sie davon ab, die emotionalen Belastungen zu thematisieren. Dabei können diese Belastungen enorm sein: Mehrere Befragte in unserer Studie erzählten von berufsbedingtem Burnout.

Strategien zur Senkung der Vulnerabilität: Was Influencer tun können

Belastungen durch Hetze, Hass und Anfeindungen auf Plattformen gelten als „Berufsrisiko“. Um diese Risiken einzudämmen, verwenden Content-Ersteller sowohl proaktive Strategien als Schutzschild gegen künftige negative Erfahrungen als auch reaktive Strategien, die sie nach belastenden Erlebnissen unterstützen.

> Proaktive Maßnahmen

Um ihre Online-Präsenz zu schützen, nutzen einige Teilnehmer der gemeinsam mit Anuli Ononye und Megan Sawey durchgeführten Studie die von den Plattformen bereitgestellten Funktionen. Allerdings finden nur wenige die Tools hilfreich, die Kommentare mit bestimmten Wörtern herausfiltern, wie die Option „Kommentare verbergen“ auf Instagram, denn auch scheinbar neutrale Formulierungen können beleidigend sein. Eine Studienteilnehmerin veranschaulichte dies mit dem Ausdruck „du denkst“: Er wird fast ausschließlich negativ verwendet – für Sätze wie „Du denkst, du bist toll“ oder „Du denkst, du bist klug“. Diese Systeme sind also nur bedingt wirksam.
Des Weiteren vermeiden es manche Influencerinnen und Influencer, kontroverse oder politisch brisante Themen anzusprechen, um das Risiko kritischer Reaktionen einzudämmen. Doch nicht Stellung zu kontroversen Themen zu beziehen, kann genauso viel Hass auslösen. Ein Team aus zuverlässigen Moderatoren kann helfen, die Kommentare zu überwachen und böswillige Aktivitäten rasch zu unterbinden. Manche Content-Ersteller engagieren auch „Sensitivitätsleser“, die ihre Inhalte vor der Veröffentlichung auf kulturelle oder kontextbezogene Trigger überprüfen.

> Reaktive Maßnahmen

Reaktive Strategien helfen, den Schaden im Fall von Hasskommentaren zu begrenzen. Während manche Influencerinnen und Influencer diese gar nicht erst lesen, setzen andere auf die von den Plattformen bereitgestellten Melde- und/oder Reporting-Systeme. Allerdings halten auch hier nur wenige Studienteilnehmer die auf den Plattformen verfügbaren Optionen für wirklich effektiv. Werden Provokateure gesperrt, „erstellen sie einfach ein neues Konto und sind nach wenigen Minuten wieder da“, wie eine Interviewpartnerin bemerkte.

Strategien zur Senkung von Influencer Vulnerabilität

Die Verantwortung von Plattformen und Marken

Plattformen und Marken verdienen gutes Geld mit Influencer-Beziehungen. Deshalb sollten sie auch Verantwortung übernehmen und die Content-Ersteller vor diesen berufsbedingten Risiken und Gefahren schützen. Die Hauptverantwortung für ein sichereres Umfeld für Influencerinnen und Influencer liegt bei den Plattformen, doch auch Markenpartner können dazu beitragen, potenzielle emotionale und soziale Belastungen durch negative Interaktionen abzufedern. Abbildung 2 zeigt, was diese beiden Akteure tun können.

> Was Plattformen tun können

Plattformen könnten Algorithmen überarbeiten, die negative Interaktionen priorisieren oder fördern. Außerdem könnten sie ihre Systeme zur Erkennung von Hetze optimieren, um Beschimpfungen, Hassrede und Bedrohungen mithilfe fortschrittlicher KI effektiver zu identifizieren und zu sanktionieren. Verbesserte Reporting-Mechanismen würden es Influencern zudem erlauben, Vorfälle rasch zu melden und zeitnah Unterstützung zu erhalten. Darüber hinaus könnten Plattformen Schutzmechanismen und Ressourcen speziell für Content-Ersteller bereitstellen, die besonders schnell reagieren, wenn negative Dynamiken außer Kontrolle geraten. Die Durchsetzung von Community-Regeln durch konsequente und transparente Strafen könnte Nutzer von aggressiven Verhaltensweisen abhalten.

> Was Marken tun können

Marken sollten sich darüber im Klaren sein, dass das Social-Media-Umfeld für Influencer, und dabei insbesondere für Frauen, People of Color und LGBTQ+-Personen, in hohem Maße toxisch sein kann. Verträge sollten Nichtausführungsklauseln enthalten, die es Influencerinnen und Influencern ermöglichen, sich von negativen Interaktionen und Kontroversen zu distanzieren, ohne eine Vertragskündigung befürchten zu müssen. Darüber hinaus sollten Markenmanager Plattformen bevorzugen, die aktiv gegen Hetze vorgehen, und sich ernsthaft dafür engagieren, ein unterstützendes Umfeld für ihre Influencer-Kampagnen zu schaffen.

Eine Influencer-Karriere mag unvergleichliche Möglichkeiten für kreative Selbstentfaltung und unabhängiges Arbeiten bieten. Ständig in der Öffentlichkeit zu stehen, kann jedoch einen enormen persönlichen Tribut fordern. Influencerinnen und Influencer verändern unterschiedliche Bereiche unseres gesellschaftlichen Lebens – von Gesundheit und Umwelt bis zur Politik. Die Verheißungen genauso wie die Risiken dieses Berufs erfordern auch in Zukunft volle Aufmerksamkeit.

LITERATURHINWEISE

Cunningham, S., & Craig, D. (2019). Social media entertainment: The new intersection of Hollywood and Silicon Valley (Vol. 7). NYU Press.

Duffy, B. E. (2017). (Not) getting paid to do what you love: Gender and aspirational labor in the social media economy. Yale University Press.

Duffy, B. E., Ononye, A., & Sawey, M. (2024). The politics of vulnerability in the influencer economy. European Journal of Cultural Studies, 27(3), 352–370. https://doi.org/10.1177/13675494231212346

Hund, E. (2023). The influencer industry: The quest for authenticity on social media. Princeton University Press. Poell, T., Nieborg, D. B., & Duffy, B. E. (2021). Platforms and cultural production. Polity Press.

Autorinnen und Autoren

  • Brooke Erin Duffy, Associate Professor Department of Communication, Cornell University


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