Historische Wurzeln, frühe Konzepte und Forschungserbe

Prof. Dr. Ludwig Erhard, Prof. Dr. Wilhelm Vershofen, und GfK-Geschäftsführer Dr. Georg Bergler

Von Nutzenvorstellungen und Marktentscheidungen

Seit 2018 agiert das Nürnberg Institut für Marktentscheidungen (NIM) unter diesem Namen. Seine historischen Wurzeln gehen aber viel weiter zurück. Die Gründung des NIM geht nämlich auf das Jahr 1934 und den Namen Gesellschaft für Konsumforschung e.V., kurz GfK, zurück. Die Gründungsväter Prof. Dr. Wilhelm Vershofen, Dr. Erich Schäfer und Prof. Dr. Ludwig Erhard verfolgten damals das Ziel, „die Stimme des Verbrauchers zum Klingen zu bringen“, wie es der Wissenschaftler und Schriftsteller Vershofen auf den Punkt gebracht hat. Richtungsweisende Konzepte von Prof. Dr. Wilhelm Vershofen wie die Analyse der Nutzenvorstellung, sein der Kaufentscheidung (und der Verkaufsentscheidung) zugrunde liegendes Transaktionsmodell oder das Verständnis der sichtbaren Marktentscheidung auf Basis der – zunächst unsichtbaren – Haltung und der Gewohnheiten der Verbraucherin bzw. des Verbrauchers sind weiterhin hochaktuell und es wert, mit dem Abstand der Geschichte noch einmal näher beleuchtet zu werden.

Prof. Dr. Wilhelm Vershofen war schon in den 1920er Jahren davon überzeugt, dass die Betriebswirtschafts- und die Volkswirtschaftslehre dem eigentlichen Kern des Marktgeschehens zu wenig Beachtung schenkten – ja gerade dort sogar einen blinden Fleck hatten, wo alle Entscheidungen getroffen werden und wo über Erfolg oder Misserfolg von Angeboten entschieden wird: bei der Konsumentin bzw. dem Konsumenten. Auf dieser Basis begann er, in Nürnberg an der Handelshochschule über „Die Lehre vom Menschen im Markt“ zu referieren und zu forschen.

Dabei übte er starke Kritik an der skalenorientierten Konsumforschung durch reisende Befrager, die in den USA zu der Zeit üblich war. Vershofen kritisierte, dass damit eher oberflächliche Zahlen erhoben wurden, da die nur „durchreisenden“ Interviewer die Lebensrealität der Befragten nicht kannten und daher die Zahlen nur bedingt inhaltlich interpretieren konnten. Er ging davon aus, dass die eigentlichen Hintergründe und Motive – das Warum einer Marktentscheidung auf individueller Ebene – in dem US-amerikanischen Ansatz nicht ausreichend erfasst werden konnten.

Um das Problem der fehlenden empirischen Grundlage für das tiefere Verständnis der Konsumentin bzw. des Konsumenten zu lösen, gründete Vershofen 1934 die Gesellschaft für Konsumforschung e. V. als engen Partner seines Instituts zur Wirtschaftsbeobachtung der deutschen Fertigware. Er verfolgte dabei den Ansatz, ein Korrespondentennetzwerk aufzubauen, das die von ihm identifizierten empirischen Defizite beim Verständnis von Marktentscheidungen der Konsumentinnen und Konsumenten überwinden sollte:

Prof. Dr. Wilhelm Vershofen

  1. Die Korrespondenten wohnten selbst in den „Bezirken“, in denen sie Interviews führten, und kannten daher die Lebenswirklichkeit vor Ort.
  2. Sie führten Interviews in der Regel bei den Befragten zu Hause durch.
  3. Die Interviews waren semistrukturiert und damit auch offen für O-Töne, die wichtige qualitative Hinweise auf die den Kaufentscheidungen zugrunde liegenden Motive und Gewohnheiten geben konnten. Außerdem konnten die Korrespondenten dadurch konkrete Probleme und Verbesserungsvorschläge an Handel und Industrie zurückspielen, was sie auch taten.

Prof. Dr. Wilhelm Vershofen hatte damit bereits 1934 begonnen, einen reichen Schatz an Informationen über Marktentscheidungen zu heben. Eine sogenannte große Enquete, also eine umfassende Studie, kostete damals 20.000 Reichsmark – vergleichbar mit etwa 100.000 Euro heute. Mit ihr wurden bis zu 10.000 Verbraucherstimmen eingefangen. Dabei war der Grundgedanke immer, dass auch die Daten der im Auftrag einzelner Unternehmen durchgeführten spezifischen Studien nach einer Karenzzeit von fünf Jahren der Wissenschaft zur Verfügung stehen sollten, um die Analyse und die Ableitung verallgemeinerbarer Erkenntnisse zu Marktentscheidungen zu ermöglichen.

Das Ziel, „die Stimme des Verbrauchers zum Klingen zu bringen“, hat Vershofen gemeinsam mit seinen Kollegen damals wie kein anderer verfolgt – und er hat es auch erreicht. Der Forschungsansatz sowie das damit realisierte Verständnis der Motive und Gewohnheiten der Konsumentinnen und Konsumenten waren in dieser Ausprägung weltweit einzigartig. Heute würde man von Qual at Scale sprechen, einer Disziplin, die erst durch das Internet und die Fortschritte im Bereich der Computerlinguistik gleichsam „wiederentdeckt“ wurde.

In der Gegenwart setzt sich die Erkenntnis immer mehr durch, daß der wirtschaftlich ausschlaggebende Faktor der Konsument im Sinne des letzten Verbrauchers ist. Von seiner Haltung, seinen Gewohnheiten und seinen Marktentscheidungen hängt zuletzt das Schicksal aller Produkte ab, die für den Markt, das heißt für den Verkauf, hergestellt worden sind.

Prof. Dr. Wilhelm Vershofen, Denkschrift 1934

Hochrelevante Konzepte und Themen – Auch für die heutige Zeit

Aus der Forschung des Teams um Vershofen entstand eine ganze Reihe visionärer und immer noch relevanter Konzepte, wie etwa eine detaillierte Nomenklatur zum Verständnis des Nutzens aus Sicht der Verbraucherin bzw. des Verbrauchers, ein Transaktionsmodell und verschiedene methodische Innovationen. Viele seiner Themen und Thesen – die Kritik am Homo oeconomicus und das oberflächlich scheinbar „irrationale“ Verhalten von Konsumentinnen und Konsumenten – würde man heute unter dem Begriff „Behavioral Economics“ zusammenfassen.

Außerdem beschäftigten sich Vershofen und sein Team früh mit inhaltlichen Themen wie der Auswirkung neuer Technologien auf Märkte – und mit den dadurch entstehenden Problemen. So führte die kosteneffiziente Massenproduktion auch zu negativen Folgen im Markt, denn es konnten Produkte zwar günstiger in hoher Stückzahl produziert werden als vorher, aber auf Kosten einer reduzierten Vielfalt an Varianten. Dies führte zu einer schlechteren Passung von Angebot und individuellem Bedarf. Dieses Problem wurde von Vershofen als „Tauschreste“ bezeichnet.

Vershofen kritisierte, dass die ökonomischen Vorteile der standardisierten Massenprodukte dazu verleiten, die teilweise schlechte Passung durch erhöhte absatzfördernde Anstrengungen eher zu überwinden, als durch die Entwicklung passgenauerer Angebote wirklich zu lösen. Er ging damit explizit in Opposition zu Henry Ford, der von seinen Verkäufern verlangte, ihre Kunden davon zu überzeugen, dass das Angebot deren Bedarf entspräche – selbst wenn die Kunden anderer Meinung waren. Das mündete in der viel zitierten Aussage Fords: „Any customer can have a car painted any colour that he wants so long as it is black.“

Vershofen sah hingegen ein qualitativ besseres Verständnis des Kundennutzens als zentralen Faktor für einen gut funktionierenden und effizienten Markt. Das Bemühen um ein konsequentes Weiterdenken der Implikationen mikroökonomischer Entscheidungen von Herstellern, Handel und Konsumentinnen und Konsumenten zu ihren aggregierten makroökonomischen Auswirkungen für Markt und Gesellschaft zieht sich durch Vershofens Schriften. Diese makroökonomische Sichtweise wurde später maßgeblich von Prof. Dr. Ludwig Erhard weiterentwickelt. Auch das Spannungsfeld zwischen steigendem Konsum und der Nachhaltigkeit bei begrenzten natürlichen Ressourcen betrachteten sowohl Vershofen als auch Erhard seit den 1940er-Jahren aufmerksam. Beide waren davon überzeugt, dass eine Gesellschaft, jede einzelne Konsumentin und jeder einzelne Konsument die Entscheidung treffen muss, wie Geld und materielle Güter einerseits sowie Zeit, Natur und Lebensqualität andererseits zu bewerten seien.

Prof. Dr. Ludwig Erhard und Prof. Dr. Wilhelm Vershofen

Prof. Dr. Ludwig Erhard und Prof. Dr. Wilhelm Vershofen

Nutzen(vorstellung) – Das Nutzenschema der Nürnberger Schule

Ein zentrales Modell Vershofens zur Erklärung von Konsumverhalten ist das bessere Verständnis des individuell wahrgenommenen Nutzens. Er befasste sich intensiv mit Konzepten wie dem von Adam Smith geprägten Wertbegriff, mit den volkswirtschaftlichen Diskussionen zur Rolle des Preises sowie mit dem von Schmalenbach diskutierten Konzept der Nützlichkeit. Keines davon überzeugte ihn vollkommen, vor allem auch deshalb nicht, weil keines die sehr individuellen Ziele unterschied, die Konsumentinnen und Konsumenten zu Käufen antreiben.

Diesen Konzepten setzte er seine Nutzenlehre entgegen, die auf zwei seiner wesentlichen Aussagen beruht:

  1. Vershofen hat schon früh darauf hingewiesen, dass für die Kaufentscheidung der Konsumentin bzw. des Konsumenten nicht ein dem Produkt objektiv „innewohnender“ Nutzen entscheidend ist, sondern die Nutzenvorstellung der Konsumentin bzw. des Konsumenten zum Zeitpunkt der Kaufentscheidung.
  2. Vershofen unterstrich, dass sich die Nutzenvorstellungen von Konsumentinnen und Konsumenten nur teilweise aus funktional-materiellen Aspekten ergeben, sondern zu wesentlichen Teilen aus immateriellen Komponenten der Nutzenvorstellung. Für die immateriellen Nutzenkomponenten hat Vershofen eine detaillierte Systematik veröffentlicht, die bis heute in einigen führenden Lehrbüchern enthalten ist.

Konsumverhalten: Sichtbare und unsichtbare Aspekte

Die Sicht von Vershofen auf den Zusammenhang von (sichtbaren) Marktentscheidungen und (unsichtbaren) Haltungen und Gewohnheiten lässt sich heute gut mit einer „Eisberg-Metapher“ illustrieren, auch wenn diese zu Vershofens Zeit noch nicht genutzt wurde. Letztlich antizipierte Vershofen lange vor der nordamerikanischen Literatur die Notwendigkeit, von der Betrachtung der Konsumentinnen und Konsumenten als „Black Box“ in Stimulus-Response-Modellen zu einer Betrachtung des Menschen in einer Stimulus-Organism-Response-Perspektive zu gelangen. Der Mensch als Organismus mit seinen von Vershofen benannten Komponenten „Haltung und Gewohnheiten“ stellt das fehlende Glied zwischen Marketingstimuli und Marktentscheidungen der Konsumentinnen und Konsumenten dar.